Frau Fricke wundert sich, ob sie was Einzigartiges verpasst hat

Warum sind alte Menschen so unflexibel? Warum sehen sie nicht die neue Welt, die den Jungen schon klar am Horizont erscheint in all ihrer Macht und Schönheit? Warum sind die so doof? Vielleicht, weil sie nicht alles, was sie zum ersten Mal sehen für neu und aufregend halten. Vielleicht auch, weil sie durch die neuen Schläuche den alten Wein erkennen.

Mit Kaffee hat’s angefangen. Ich stehe vor einem bärtigen Mann, an dem jemand eine schwere Segeltuchschürze mit Lederriemen vertäut hat, als müsse sie einen Sturm überstehen. Eigentlich will ich nur einen Kaffee. Der Mann guckt mich erwartungsvoll an, als käme da noch was. Es kommt nichts. Er zieht die Augenbrauen hoch und steufzt. „So kann ich nicht arbeiten“ soll dieses Seufzen heißen. „Ich brauche hier echt nen Briefing.“ Ich bin verunsichert. Haben wir hier ein sprachliches Problem?

„Äh, Kaffee“ sag ich. „Weißtschon. Heißes Wasser, das durch gemahlene Kaffeebohnen läuft.“ Er sieht durch mich durch. „Lecker.“ sag ich also tapfer und hoffe, dass er damit irgendwas anfangen kann. Und tatsächlich wird er plötzlich munter.

„Oh“, sagt er, „Ja, das haben wir.“ Ich bin nicht überrascht. „Ganz neu. Erst seit ein paar Tagen.“ Jetzt bin ich’s schon. Er dreht sich um und verschwindet kurz. Dann kommt er mit etwas wieder, von dem er sicher ist, dass ich es noch nie gesehen habe. Er hält es triumphierend in die Höhe und ich sehe kurz, was er jetzt sieht: Ein verrücktes Instrument. Ein Ding, das man eher in einem Labor vermuten würde. Den ganz letzten heißen Scheiß.

Der Mann schmeißt ein Gerät an, das tatsächlich aussieht, wie der Bunsenbrenner aus meinem Chemieunterricht und darüber stellt er ein ulkiges Gestell und darauf eine Glasblase mit Wasser. Wir sind definitiv im Chemieunterricht. Während das Wasser seinem Siedepunkt entgegeneilt, greift er in eine Schublade und holt eine winzige Tüte aus dickem braunen Papier heraus. Damit kleidet er das Instrument aus, das er aus dem Hinterzimmer geholt hatte, mahlt Kaffee, füllt das Kaffeemehl ein und hält mir einen kurzen Vortrag über Kaffeearmomen und die ultimative Methode, sie der Bohne zu entreißen. Nämlich diese hier. Er gießt das inzwischen blubbernde Wasser auf. Ein betörender Duft steigt auf.

„Ach“ sag ich, „Das riecht jetzt so nach Sonntag bei Opa. Der hat das auch immer so gemacht.“

Dem Bärtigen fällt fast die Glasblase aus dem Schutzhandschuh. „Das ist aber was ganz Neues.“ sagt er. „Nee“, sag ich, „Das ist Filterkaffee. Da wo ich herkomme, hat man Kaffee früher immer so gemacht. Also jetzt bevor Cappuccino in Mode kam. Und Espressomaschinen und sowas.“ Der Bärtige ist entsetzt. Ich kann nicht sehen, aber erahnen, wie seine Mundwinkel hinter seinem Kinnpelz zusammenfallen. Hinter seinen hohlen Augen sehe ich sein Leben rückwärts vorbeilaufen. Alles, wofür er gelebt hat, verschwindet in diesem Moment durch einen Kaffeefilter, den ich als „poplig“ bezeichnet hätte – bevor ich die Rechnung gesehen hab.

Vielleicht hat er sich abends in einem Akt von Autoaggression einen Nescafe gemacht und leise hinein geweint. Vielleicht hat er aber auch seinem Kummer über die Ignoranz seiner Umwelt in 140 Zeichen Ausdruck verliehen.

Der Häschtäck „diesejungenleute“ würde sich da anbieten.

Da treffen sich junge Leute gewissermaßen um gemeinsam zu beklagen, was noch jede Generation junger Leute vor ihnen beklagt hat: Dass alle ganz gemein sind zu den jungen Leuten. Keiner nimmt sie ernst. Keiner hört ihnen zu. Keiner sieht, dass sie total toll und voll innovativ sind. Und – vielleicht wenigstens ein kleines bisschen neu:

Keiner sieht wir unglaublich einzigartig sie sind, diesejungenleute. Sie selbst und alles, was sie tun. 

Das übrigens, scheint besonders schwer auszuhalten: dass alles schon mal da war. Selbst diese Schwierigkeiten, seinen Platz in der Welt der Etablierten zu finden, ist nicht neu. Das also war der Grund, warum damals der „Fänger im Roggen“ als Klassensatz bestellt wurde!

Nie ist was neu und einzigartig genug. Jedes Mal, wenn diesejungenleute mit glänzenden Augen irgendetwas Neues in die Gesellschaft tragen, gähnen nur alle träge und sagen: „Kennwaschon.“ Denn merke: Nur weil etwas einen Häschtäck hat, ist es noch nicht revolutionär. Und was die urls angeht, die allein machen auch noch keine Innovation. Auch im letzten Jahrtausend gab es schon Kasinos, Mitwohnzentralen, Mitfahrzentralen und Versandhäuser. Es gab Lexika, Wörterbücher, Kinos, Pornos, Banken. Manchmal ist diese Erkenntnis für diesejungenleute ein echter Schock. Leute haben sich unterhalten, sie haben einander geschrieben, sie haben zusammen etwas unternommen und manchmal haben sie zusammen gesessen und sich etwas ausgedacht, das zumindest ihnen neu vorkam. Manchmal hatten sie sogar Erfolg damit. Und es gab Kaffee. Alles nichts Neues.

Es gab auch schon Monopolisten, Kopisten, Firmenzusammenbrüche und Disruption. Sorry. 

Vielleicht sind die Alten da etwas gelassener, weil sie genauso waren, weil auch sie alles superrevolutionär und absolut neu fanden, was sie zum ersten Mal verstanden hatten. Weil auch sie ihre Umgebung damit genervt haben. Weil auch sie ihre Begrenzung nicht erkannt haben. Sie haben die Entwicklungen von Dingen gesehen, die sie für unfehlbar hielten, sie haben gesehen, wie sie im langen Marsch durch die Jahrzehnte abschliffen wurden und die immer selben archaischen Machtstrukturen und Urinstinkte frei legten. Am Ende ging es immer nur um Macht und Geld und den eigenen Vorteil. Und auch das ist weder neu noch einzigartig. Kain und Abel, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder könnten ein Hinweis darauf sein.

Blöd gelaufen für die Prinzen und Prinessinnen, die mit „Ganz besonders und einzigartig“ als Motto im Schild aufgewachsen sind. Ich selbst bin ja ein Baby Boomer. Das war ja noch die Schuldigung-dass-ich-da-bin-Generation. Die Hochzeitsgrundkinder, die gelernt haben, dass sie sich jetzt bitte wenigstens im Hintergrund halten möchten, wenn sie ihre Eltern schon mit ihrer Existenz belästigen und sie an der gerade in Mode gekommenen Freien Liebe hindern. Das sind die, von denen es immer zu viele gab. Zu große Klassen, zu wenige Ausbildungsplätze, zu wenige Wohnungen. Das sind die, deren erste Pflicht es war, mit dem Hintergrund zu verschmelzen und nicht weiter aufzufallen. Das wollte unsere Generation ihren Kindern ersparen. Und so entstand die Generation Du-sollst-wissen-das-du-etwas-ganz-Besonderes-bist. Wir haben’s gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Denn was uns nicht klar war: Das, wovor wir unsere Kinder unter allen Umständen bewahren wollten, haben wir ihnen so als werkseitig eingebaute Sollbruchstelle mitgeliefert: Das totale Versagen. Hinter der Versicherung, besonders zu sein, lauert auch der Anspruch, es sein zu müssen.

Rein mathematisch kann aber nun mal nicht jeder einzigartig und überragend sein.

Und so bleibt diesenjungenleuten eigentlich nichts weiter übrig, als alles, was sie gerade neu gelernt, neu verstanden oder sich neu angeeignet haben, als einzigartige Erkenntnis und total neue Entwicklung umzudeuten. Wenn eine echte Kulturrevolution ausbleibt, (Sorry, Leute auch die gab’s schon), dann verbiegt man sich eben in Kognitiver Dissonanz, so lange, bis man etwas dahin umdeuten kann, dass es wie ein Vorbote eines leuchtenden neuen Zeitalters aussieht. Verzweifelte Gründer und ihre mittellosen Ausbeuterbuden werden schnell zu Startups umlackiert und holen sich damit einen „Gut gemacht“ und eine Million Venture Capital von der Generation, die ihnen verschweigt, dass sie das eigentlich nur aus nostalgischen Gründen macht.

Es war blöd, diesejungenleute mit der Hypothek zu belasten, etwas Besonderes sein zu müssen. Es ist auch blöd, ihnen jetzt vorzumachen, dass nur sie allein die Welt verstehen. Denn wir haben hier eine Aufgabe, die wir nur im Teamwork bewältigen können. Die Etablierten haben die Erfahrung – ja und manchmal auch die Angst –  die vor Kurzsichtigkeit und übereilten Entschlüssen bewahrt und die Jungen haben den Mut – ja und manchmal auch die Ignoranz – Dinge vorzuschlagen, die die Alten nicht zu denken gewagt hätten. Jeder für sich geht unter. Die einen aus Bewegungslosigkeit. Die anderen mit blindem Aktivismus. Aber zusammen wären wir großartig.

Das setzt allerdings Respekt voraus. Und Demut. Auf beiden Seiten.

Und an genau diesem Respekt lassen es die Alten fehlen, wenn sie nicht bereit sind, sich auf einen Dialog mit diesenjungenleuten einzulassen, sie in Frage zu stellen und ihnen zu erlauben fehlbar zu sein. Das setzt aber voraus, dass man sich die Mühe macht, Thesen zu hinterfragen und sich auch selbst unbequeme Fragen gefallen lässt, anstatt aus Bequemlichkeit, alles zur interessanten einzigartigen ganz und gar neuen Deutungsvariante zu erheben.

Als ich einer dieser jungen Leute war, hatte ich wundervolle Mentoren. Einer davon war Herr Diekmann, ein unwahrscheinlich kluger Handwerker, der es zu einem ausgesprochen florierenden Unternehmen gebracht hatte, das er von seiner neu bezogenen Villa im Nobelviertel der Stadt betrieb. Ich gab seiner Tochter Englisch-Nachhilfe und belehrte ihn beim Mittagessen, zu dem ich jedes Mal eingeladen wurde, dass Herr Diekmann für mich ein Ausbeuter war. Herr Diekmann nickte nicht anerkennend und fand, dass ich da aber mal auf eine ganz wahnsinnig unique Idee gekommen wäre, er erklärte mir detailliert seine Sicht – und er stellte Fragen. Kurz: Herr Diekmann nahm mich ernst. Und das hieß auch, dass er mich nicht mit Blödsinn davon kommen lies. Dafür kann ich ihm gar nicht genug danken. (Vielleicht sollte ich das tatsächlich mal persönlich tun.)

Ich hab viel von Herrn Diekmann gelernt. Und er vielleicht auch ein bisschen von mir. Ich weiß es nicht. Ist auch egal. Wichtig ist, dass Herr Diekmann nicht von mir erwartet hat, zu verstehen, dass ich nicht alles verstehe. Er hat auch nicht von mir erwartet einzigartig zu sein und die Welt zu revolutionieren. Er hat einfach nur erwartet, dass ich ihm denselben Respekt entgegenbringe, den er mir entgegen zu bringen bereit war. Und ein Teil dieses Respekts war, dass er mir nicht vorgemacht hat, ich wäre mehr als ich war. Ein Teil dieses Respekts war auch, dass ich wusste, dass er mich trotzdem schätzt. Einfach dafür, dass ich ich war. Wenn ich irgendwas von Herr Diekmann gelernt habe, dann, dass ich gar nicht Besonders sein muss, um wichtig zu sein. Kein Gründer, kein Influencer, keiner, der den Filterkaffee neu erfunden hat. Einfach nur ich.

Vielleicht war das meine Kulturrevolution.

 

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